Freitag, 26. November 2010
Rückblick 5 - Schulzeit, die nächsten drei Jahre - 2003 bis 2006
Ein Lehrer-Wechsel ist immer eine spannende Sache, 2003 war es bei Julian soweit. Die neue Lehrerin informierte immer sehr anschaulich über die Themen in der Klasse, da wurde Material für uns Eltern mitgebracht, die Bilder und sonstige Werke der Kinder hingen in der Klasse in greifbarer Höhe, überhaupt war das Zimmer sehr lebendig und warm gestaltet.

Sie und ich brauchten zwei Gespräche, bis wir eine gute Ebene hatten, um miteinander zu diskutieren, aber dann gelang es sehr gut. Bei ihr hatte ich auch das Gefühl, daß sie das, was ich von zu Hause berichtete, überdachte, und daß es Auswirkung auf ihre Arbeit mit Julian hatte. Ihr war es auch wichtig, Julian´s Zuhause kennen zu lernen, so fand ein Förderplan-Gespräch bei uns zu Hause statt.
Ich hatte u.a. angeregt, Julian nicht mit Fingerfarben malen zu lassen, sondern ihm andere Angebote zu machen, da ihm Farbe an sich ja nichts sagt. Dies wurde aufgegriffen, so durfte er dann mit verschiedenen Papiersorten, auch Tapetenresten, arbeiten, diese reißen und kleben.
Ein Jahr lang war eine sehr engagierte Referendarin in der Klasse, die Fachlehrerein für Blinden- pädagogik wurde. Es gab während Ihrer Zeit in der Klasse verschiedene Projekte mit gestalterischen Elementen, wie Gips- und Holzarbeiten.
Die Lehrerin regte auch ein Mobilitätstraining für Julian an, das er dann auch auf Rezept bekam. Es wurde von einer Mobilitätstrainerin aus der Blindenschule in Schramberg-Heiligenbronn durchgeführt. Seit dem legt Julian kleine Strecken mit dem Blindenstock zurück.

Der Lehrerin war es ein großes Anliegen, mit Julian zu arbeiten, da er, wenn man ihn ließ, einfach herumsaß und nichts tat, so ihre Aussage. Die anderen Kinder in der Klasse waren allesamt mobil, so daß sie sich die Zeit nehmen konnte, mit ihm Freizeit und Pausen zu gestalten, für die anderen war dann zeitweise der Zivildienstleistende zuständig. Auch wurde er auf meinen Wunsch hin endlich mit Blindenschrift konfrontiert, z.b. wurden seine Fibeln mit Blindenschrift bedruckt, der Tisch mit seinem Namen beklebt, etc.

Sie hatte eine enge und liebevolle Beziehung zu allen Kindern, das sah man am Umgang von ihr mit den Kindern und der Kinder mit ihr.

Sofort wurde auch der Wunsch der Eltern nach gemeinsamen gelegentlichen Frühstücken aufgegriffen, wir Elternvertreter organisierten die Zutaten, die Lehrerin sorgte für die Deko. So kamen wir Eltern miteinander in Kontakt, lernten uns gegenseitig und die Kinder kennen, wurden auch während des Jahres über die Klasse und Aktuelles informiert. Auch sorgte sie dafür, daß die Kinder dann eine zeitlang betreut wurden, so daß wir in Ruhe miteinader sprechen konnte. Man sieht also, was möglich ist, wenn ein guter Wille da ist.

Noch heute trauere ich der ganzen Atmosphäre nach.

In diese Zeit fielen auch zwei schwere Erkrankungen von Julian.
2004 erlitt Julian einen Blinddarmdurchbruch. Weil er sich so schlecht äußerte, wo es wehtat, der Verlauf unspezifisch war und der Blinddarm sich hinter einer Darmschlinge versteckte, so daß er im Ultraschall nicht sichtbar war, verloren wir wertvolle Zeit, da man in der Klinik nach dem Ausschluß- verfahren arbeitete. Nachdem die Entzündungwerte trotz Antibiotika ins Unermeßliche kletterten, wurde er quasi last minute operiert. Tagelang lag er danach auf Intensiv, wo er sehr gut betreut wurde.
Die Ärzte und Pfleger auf der Station waren wirklich klasse, hatten immer Zeit für unsere Fragen und nahmen das, was wir sagten, auch ernst. Wir wechselten uns tagsüber ab und ließen ihn nicht alleine. Es war ein tolles Team auf der Intensivstation des Josefskrankenhauses. Obwohl es ein paar richtig schwere Tage waren, habe ich mich dort menschlich und medizinisch sehr gut mit meinem Kind aufgehoben gefühlt.

2005 brach sich Julian in der Schule das Schienbein. Der Unfallhergang ist für mich bis heute nicht ganz nachvollziehbar. Aber bei Unfällen stehen die Menschen unter Schock und oft haben verschiedene Menschen auch verschiedenes beobachtet.
Julian rutschte während einer "Feuerübung" auf dem Schulgelände auf einer Nuss aus und fiel zu Boden, obwohl ihn die betreuende Person an der Hand hielt. Danach wollte er nicht mehr aufstehen und nahm eine Beinschonhaltung ein. Der Krankenpfleger fuhr zum nahegelegenen Krankenhaus in Waldkirch. Die Ärztin dort untersuchte ihn und röntgte nur den Oberschenkel, schickte das Kind mit einem Zäpfchen gegen Schmerzen und der Diagnose "Prellung" wieder weg.
Mich erreichte die Nachricht erst gegen Mittag, weil ich vormittags außer Haus war, mich auf dem Handy anzurufen, ist leider niemandem eingefallen. Als ich in der Schule ankam und Julian sah, wußte ich sofort, daß er starke Schmerzen und nicht nur eine Prellung hatte. Also sausten wir zum Kinderarzt, den ich über Handy verständigte, daß wir per Notfall kämen, der uns nach kurzer Untersuchung sofort an das Hedwigskrankenhaus verwies, wo man das ganze Bein röntge. Diagnose: Schienbeinbruch.
Das Bein wurde von Fuß bis Ende Oberschenkel eingegipst.
Leider konnte Julian nicht mit Krücken laufen, da er das nicht umsetzen konnte, mußte er sieben Wochen lang von uns umgesetzt und teilweise getragen werden. Wir bekamen leihweise einen Rollstuhl, an den ein Brett montiert war, auf das er das Bein legen konnte. Längere Ausflüge waren jedoch auch damit nicht möglich, da jede Bodenunebenheit Schmerzen und Unsicherheit auslösten.
In dieser Zeit habe ich mir so manches mal gewünscht, eine behinderten-gerechtere Wohnung zu haben. Auf die Toilette konnte er aufgrund des Gipses auch nicht gehen, so daß wir ihn auch tagsüber wieder windeln mußten.
Das war eine anstrengende Zeit für uns alle. Julian´s Vater war kurz vor dem Bandscheibenvorfall und erhielt von seinem Arzt ein absolutes Trageverbot. Zum Glück war Julian´s Bruder in der Lage, ihn die Treppe zur zweiten Etage hoch und runter zu tragen und mich zu den Kontrollen ins Krankenhaus zu begleiten, da ich den Jungen nicht mehr alleine heben konnte.
Wenn ich zum Einkaufen weg mußte, hat mich zum Glück meine Mutter unterstützt und so lange auf Julian aufgepaßt. Wir waren in dieser Zeit immer wieder auf Hilfe von außen angewiesen.

Nach Verheilen des Bruchs war es sehr schwierig für ihn, wieder Vertrauen in sein Bein und in seine Umwelt zu fassen. Insgesamt dauerte es ein gutes Jahr, bis die seelischen und körperlichen Folgen des Unfalls nicht mehr zu spüren waren.
Anfangs schrie er nur bei der Krankengymnastik. Das legte sich zum Glück nach 2 Behandlungen. Ich bewundere heute noch die Physiotherapeutin um ihre Ruhe und Gelassenheit. Genauso dafür, wie selbstverständlich sie mit ihm sprach, und davon ausging, daß er alles versteht. Und er setzte auch alles 1:1 um.
Die anderen Folgen wie z.b. das Innnehalten bei jeder kleinsten Bodenunebenheit und Wetterfühligkeit blieben jedoch noch lange. Die körperliche Fitneß hatte er erst nach 1 Jahr wieder erreicht.

Diese beiden Ereigenisse haben uns nochmal ganz deutlich gemacht, wie wichtig Kommunikation ist. Hätte er besser und deutlicher für Außenstehende kommuniziert, hätte ihm in beiden Fällen besser und schneller geholfen werden können.

Seit dem ist Sprache ein großes Thema bei uns. Inzwischen kann Julian Wünsche, was er gerne tun möchte, besser äußern, in dem er einen kleinen zusammenhängenden Satz spricht.
( 25 Oktober 2007 )