Freitag, 26. November 2010
Rückblick 4 - Schulzeit - die ersten drei Jahre - 2000 bis 2003
Ein neuer Abschnitt beginnt mit jeder Einschulung, bei Julian war es für uns jedoch ganz besonders.

Wir entschieden uns nach langem Überlegen für die Sehbehinderten-Schule St. Michael in Waldkirch, um eine Beschulung in einer weit entfernten Blindenschule zu umgehen, da wir uns das für unseren damals 7-jährigen einfach nicht vorstellen konnten. Die nächsten Blinden-Schulen befinden sich in Ilvesheim bei Mannheim oder Schramberg im Schwarzwald, die Unterbringung im Internat wäre dort unausweichlich.

Sehbehindert und Blind ist doch irgendwie ähnlich - so dachten wir.

Wir wurden von einem Lehrer, der in der Frühförderung tätig war, "geworben" mit den folgenden Worten:
Die personelle Besetzung in der Abteilung für Mehrfachbehinderte, in die unser Sohn kommen würde, sei sehr gut. Dort gebe es immer Zivis, Krankengymnasten sowie Refrendare.
An der Schule gebe es einen Lehrer, der Blindenschrift unterrichten würde.
So die Theorie.

Die Realität sah dann teilweise etwas anders aus. Im ersten Schuljahr bestand Julian´s Klasse aus drei!!! schwerstbehinderten Kindern, einem relativ fitten gleichaltrigen Jungen namens Benedikt mit einem Glasauge und einem gesunden Auge, und unser ebenfalls nicht sonderlich fitten Julian.
Die drei schwerstbehinderten Kinder waren allesamt Rollstuhl-Kinder, ein Mädchen war schwer krank und völlig hilflos, ein Mädchen konnte auf dem Po rutschend sich fortbewegen, das dritte Kind konnte auf dem Rollbrett sich fortbewegen, aber nicht alleine sitzen oder sich selber aus dem Rollstuhl heben. In dieser Klasse gab es genau eine Lehrerin und einen Zivi!

Der Personal-Schlüssel in körbehinderten Schulen ist viel höher, St. Michael habe den für geistig behinderte Schule, der eben niedriger sei, sagte mir der Rektor, als ich ihn auf diesen Mißstand ansprach. Anträge an´s Oberschulamt seien gestellt und negativ beschieden worden. Was soll man dazu sagen???

Das erste Schuljahr war für unser Kind nicht so besonders, das merkte ich deutlich an seinen Reaktionen, wenn er in die Schule sollte oder heimkam.
Nach einigen Wochen suchte ich deshalb das Gespräch mit der Lehrerin. Der Austausch war in Ordnung. Ich denke im Nachhinein, daß es für sie relativ schwer war, für unser Kind ein Beschäftigungs-Konzept zu finden, auch noch in dieser Klassenkonstellation.

Es ist grundsätzlich gar nicht so einfach, für ein blindes Kind Ideen zu entwickeln, denn blinde Kinder beschäftigen sich und spielen einfach anders als sehende Kinder.
Beim gemeinsamen Kochen in der Schule z.b. interessierte sich Julian sehr für die Tätigkeiten und die verschiedenen Gerätschaften. Ein Thema war auch ein "be-greifbarer" Stundenplan. Dennoch gab es immer wieder Zeiträume, in denen Julian keine Beschäftigung fand laut Lehrkraft.

Als Resultat aus den Gesprächen zwischen Lehrerin und mir wurde dann ein Spiel aus Luise Bartkowski´s Sortiment angeschafft, die Fädelraupe, die dann auch von der Lehrerin mit Julian in der Schule gespielt wurde. Denn meines Erachtens gab es wenig Interessantes für Julian unter den Spielsachen im Klassenzimmer.

Große Mühe hatte unser Kind mit dem langen Schultag, er wurde morgens um halb acht von einem Schüler-Beförderungs-Unternehmen abgeholt und mittags an zwei Tagen um halb zwei, an drei Tagen um vier Uhr wieder gebracht. Das war für ihn viel zu lang, die Nachmittage hat er dort teilweise verschlafen.

Ein Referendar war im ersten Jahr überhaupt nicht in der Klasse. Dazu muß man wissen, daß ein Referendar nur stundenweise in der Klasse ist, i.d.R. an ein bis zwei Tagen.

Das zweite Jahr lief schon besser, da sich die Klasse zu Gunsten aller veränderte, Julian in der Schule angekommen war, es sich einfach alles ein wenig eingespielt hatte. Endlich kam auch eine Referendarin als Unterstützung der Lehrerin dazu. Große Probleme bereitete der Toilettengang in der Schule, immer wieder gab es nasse Unterhosen und Hosen. Gerne wurden Windeln genommen, wenn Julian z.b. in Projekte, also zu eher fremden Lehrkräften ging.

Im zweiten Schuljahr war eine sehr engagierte Lehrerin stundenweise in der Klasse, in Kooperation mit ihr und der Lehrkraft fuhren die Kinder zum ersten mal für eine Nacht ins Landschulheim nach Menzenschwand in eine Ferienwohnung. Der Zivi war auch mit dabei. Den Kindern hat es ausnahmslos gut gefallen.

2003 kam ein toller Referendar in die Klasse, ihm war es zu verdanken, daß die Kinder an einem Projekt auf dem Freiburger Mundehof im Rahmen von Kontiki teilnehmen durften. So ging es regelmäßig zum Mundenhof, um dort u.a. mit den Tieren zu arbeiten. Bilder, die für sich sprechen, hiervon im nächsten Eintrag.

Unser Antrag während dieser Jahre beim Sozial- und Jugendamt auf Förderung außerhalb der Schule, z.b. LPF(=lebenspraktische Fertigkeiten), wurde abgeschmettert mit der Begründung, das müsse die Schule leisten. In der Schule erfuhr ich dann, daß LPF eine Spezial-Ausbildung ist, die mehrere tausend Euro kosten würde und die Lehrer allerhöchstens freiwillig absolvieren könnten, die aber in Waldkirch niemand habe.

Im den ersten beiden Jahren bekam Julian in der Schule keinerlei zusätzliche Förderung wie z.b. Krankengymnastik oder Logopädie, denn nachdem ich zuerst mit den Physiotherapeuten sprechen wollte, bevor das von der Schulärztin über meinen Kopf hinweg entschieden wurde, gab es keinen Platz mehr für mein Kind im Stundenplan der Therapeuten. Eine festangestellte oder externe Logopädin gab es gar nicht an der Schule.

Von Anfang an wurde unser blinder Sohn nicht von einem Blindenpädagogen unterrichtet, sondern von Lehrern für Geistigbehinderte oder Körperbehinderte.

Das Resultat vieler Gespräch mit dem Rektor der Schule in Bezug auf unser Dilemma LPF war immerhin, daß er realisierte, daß die Anforderungen an die Lehrkräfte und Internatserzieher steigen und inzwischen gibt es ein Fortbildungsangebot an der Blindenschule Würzburg, das dort über einen Zeitraum von einem Jahr an diversen Wochenenden stattfindet. Das Angebot wird von einigen Kräften gerne angenommen.
An einem Pädagogischen Tag referierten zwei Erzieher über Erlebtes, das war sehr interessant. Die Elternschaft wird in St. Michael zu den pädagogischen Tagen i.d.R. eingeladen, und ich habe teilnehmen können. Es war ein sehr informativer Vormittag, vieles wurde angesprochen, konnte aber leider nicht vertieft werden.
(10 Oktober 2007)